Eine Bildungsreise

Immer wieder flammen meine Minderwertigkeitsgefühle auf, und greife ich nach einem Buch der ‘umfassenden Bildung’. In der Vergangenheit habe ich so die Ideengeschichte Peter Watsons gelesen. Zu meinem Entsetzen muß ich auch nach vielen Jahren lesen und studieren (obwhol außerhalb der Universität) feststellen, dass mein Bildungsstand nicht an die Allgemeinbildung eines süddeutschen Abiturienten.

Kann man “Bildung” überhaupt nachholen? Zeitgenössische Erkenntnisse über die Flexibilität unseres Gehirns (und damit unseres Geistes) machen Mut. Deshalb habe ich, inzwischen vierzig Jahre alt, das Buch “Bildung” des kontroversen, 2004 verstorbenen, Englishprofessors Dietrich Schwanitz durchgelesen. Er feiert das humanistische Bildungsideal in einer Zeit just vor dem Vormarsch der sozialen Medien und Wikipedia – heute bräuchten wir so eine Übersichtsdarstelling umso mehr.

Und? Klar, die Fremdwörter, die Schwanitz mit pedantischem Eifer alle ins Deutsche überträgt, kannte ich alle, aber simple Fakten fehlten. Brutus, der uneheliche Sohn Caesars. Und wer waren Cato, Crassus, Pompei? Die Phönizier sind ja die Karthager. Amphytrion, Alcmene, Herakles? Elektra? Im Mittelalter, wer war Chlodwig? Wann lebte Karl V? Die Pest 1347-1350? Renaissance. Wer war Palladio? Vasari? Moderne. Was war de Rheinbund? Wann endete das Heilige Römische Reich der Deutschen Nation? Neuzeit. Was ermöglichte Hitler? Kunst. Wann lebte Dürer? Literatur. Wer schrieb Wurthering Heights? Wie charakterisieren wir Ionesco, Pirandello, Brecht, Shaw, O’Neill und Beckett?

Ich kam zu dem traurigen Schlus, dass ich nie gebildet worden bin. Die Armseligkeit des Unterrichts an jener Schule, an dem ich einst das niederländische “Abitur” schrieb, ist kaum zu überbieten. Und auch danach, an der Universität, hat mir niemand gesagt, “wo es lang geht”. Ja, wir lasen vereinzelt Texte von Aristoteles bis Adorno, und schrieben Klausuren – wie an einer Schule, verdammt noch mal. Nie hatte ich das Gefühl, an einer Universität zu studieren mit regem Meinungsaustausch und umfassender Bildung. Bildung war etwas, das dem Anderen gehörte: Leuten die an einem ordentlichen Gymnasium von begeisterten Lehrern unterrichtet waren, Leuten die zu Hause die Bildungssprache einübten mit Eltern die ebenso begeistert die Bildungskultur weitergeben, da sie wissen, dass diese sonst verloren geht.

All das muß man nachholen, egal in welchem Alter, egal ob man schon eine Dissertation geschrieben hat und alles “schon mal” gelesen hat. Wir sind ständig dazu aufgefordert, eine Bildungsreise zu unternehmen, und sei sie noch so bescheiden.

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